Die Geschichte
1798 – heute
Die Ideen der Französischen Revolution – individuelle Freiheit und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz – vertrugen sich nicht mit der zünftischen Struktur des alten Zürich, vor allem aber nicht mit der Vorherrschaft der Stadt über das Land.
Der Einmarsch der französischen Truppen 1798 liess die alte Ordnung zusammenbrechen.
Die Zürcher Zünfte sahen sich somit fast über Nacht in den Status von privaten Vereinen versetzt, die sich fragen mussten, ob ihre Weiterexistenz überhaupt einen Sinn habe. Dabei spielte die Frage nach dem Schicksal des Zunftvermögens (Zunfthaus samt Mobiliar) eine entscheidende Rolle. Die politische Situation sprach zunächst für eine möglichst rasche Liquidation, das heisst für die Verteilung des Zunftvermögens auf die einzelnen Zünfter, da man eine Konfiskation durch die neuen politischen Autoritäten befürchtete. Der Zunftschatz wurde offenbar bereits vor dem französischen Einmarsch unter die Zünfter verteilt. Am 20. Juni 1798 beschloss eine Zunftkommission die Liquidation unseres Zunftvermögens, wobei man auch das Zunfthaus verkaufen wollte. Die Liquidation konnte aber aufgrund verschiedener Umstände erst im Sommer 1799 beginnen und war 1801 abgeschlossen. Für das Zunfthaus liess sich offenbar – glücklicherweise – kein Käufer finden.
Etwa bis zur Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 gab es verschiedene Zwischenphasen, die sich nie lange halten konnten. So gab es, wenigstens in der Stadt, die «politischen Zünfte», welche als Wahlkörper fungierten. Und es gab nach dem Sieg der Liberalen ab 1830 eine reaktivierte und verfeinerte Handwerksordnung. Bei den Zimmerleuten gingen die einzelnen Berufsgesellschaften, die Maurer, Küfer und Zimmerleute wieder ihre eigenen Wege, wobei die alten Abgrenzungsstreitigkeiten erneut zutagetraten. Der Versuch, die alte Ordnung teilweise wieder einzuführen, scheiterte aber vor allem angesichts der jetzt aufkommenden Industrialisierung. 1837 wurde die prinzipielle Gewerbefreiheit für alle Berufe proklamiert. An die Stelle der auf staatlichem Zwang beruhenden Handwerkerkorporationen traten in der Folge die privaten Gewerbeverbände. Mit dem kantonalen Gemeindegesetz von 1866 schliesslich wurde auch den «politischen Zünften» als Wahlgremien in der Stadt ein Ende bereitet.
Die Umwälzungen dieser Zeit waren gewaltig. Es gab neue Masssysteme, eine neue Währung, den Technologieschub mit dem Eisenbahnbau als Vorreiter. Die Stadt Zürich wuchs rasant über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus. All dies polarisierte und verunsicherte nicht nur, sondern liess auch das Interesse an Geschichte und Tradition aufkommen. Das Bedürfnis, zürcherische Tradition weiter zu pflegen, kristallisierte sich vor allem im Sechseläuten, dessen Anfänge ins Jahr 1818 fallen und das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine erste grosse Blütezeit erlebte. Die Umzüge dieser Zeit wurden nicht jedes Jahr durchgeführt. Und vor allem: sie waren jedesmal einem neuen Thema gewidmet, das mit grossem Aufwand inszeniert wurde. Von der Jahrhundertwende an wurden immer mehr sogenannte Quartierzünfte gegründet, die sich zu den historischen Zünften gesellten.
Der Erste Weltkrieg mit seinen unvorstellbaren Auswirkungen, die sozialen Spannungen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum und die Weltwirtschaftkrise brachten es mit sich, dass der Kontrast zum Optimismus des 19. Jahrhunderts im aufstrebenden Zürich denkbar gross war. Die Zünfte litten denn auch bis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges an Überalterung und Nachwuchsproblemen. Das war auch auf unserer Zunft der Fall und führte den Zunftpfleger 1926 zur Aufforderung: «Wir müssen den Weg zur Zunft auch Minderbemittelten offenhalten.»
Seit Mitte der dreissiger Jahre nahm das Interesse an der Zunft wieder zu, was sich in steigenden Teilnehmerzahlen am Rechenmahl und in zunehmenden Aufnahmeanträgen äusserte. Hatte der Pfleger 1926 noch nach Bewerbern Ausschau gehalten, so musste Zunftmeister Emil Landolt 1952 vor einer Überfüllung der Zunft warnen. Seit 1948 bestand ein Kriterienkatalog für die Aufnahme neuer Zünfter. Unter den Neueintretenden war der Anteil der Zünftersöhne immer relativ hoch. Hinzu kamen Zünfterschwiegersöhne, manchmal auch Neffen oder Enkel. Aufnahmen von Bewerbern ohne familiäre Bindung zur Zunft waren eher selten, kamen aber immer wieder vor. Die familiäre Kontinuität stärkte das freundschaftlich-gesellige Element der Zunft; neben die traditionellen Veranstaltungen wie Sechseläuten und Rechenmahl traten zunehmend zwanglosere Anlässe wie Ausflüge und Besichtigungen.
Die Tatsache, dass die Zunft zu einem guten Teil ein Verband von Familien war, schloss freilich Wandlungen in der Zusammensetzung nicht aus. Die Namen mancher Familien sind heute aus dem Zunftrodel verschwunden, etwa die Bluntschli, Michel, Simmler, Kambli, Klauser oder Vögeli. Auch die Berufsstruktur der Zunft veränderte sich. Hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch die Vertreter der Handwerke der alten Zunft – Zimmerleute, Maurer, Küfer usw. – einen grossen Teil der Mitglieder gestellt, so finden sich heute ganz verschiedene Berufe, vor allem aus dem akademischen und dem kaufmännischen Bereich.
Gelegentlich wird die Frage nach dem politischen Charakter der Zunft aufgeworfen. Im Kreis der Zünfter werden neben vielen anderen selbstverständlich auch politische Themen diskutiert. Es gibt aber keine Verbindung der Zunft zu Parteien. Festzustellen ist hingegen ein gewisser «bürgerlicher Grundkonsens» – eher konservativ in den Wertvorstellungen, liberal im Denken, sozial in der Praxis. Zur Frage eines aktiven Politisierens der Zunft, etwa mit Stellungnahmen zu aktuellen Fragen, hatte sich bereits 1936 der damalige Zunftschreiber Emil Landolt sehr eindeutig geäussert: «Politisch haben die Zünfte nichts mehr zu sagen. Damit muss man sich abfinden. Alle Bemühungen, in dieser Beziehung neues Leben einzuimpfen, werden auf die Dauer nicht gelingen. Unsere Zünfte haben allein die Tradition zu wahren … Wenn wir auch als Zunftgesellschaft nichts mehr zu den Ereignissen des Tages zu sagen haben und uns auch nicht nach dem Willen vieler mutig in die Schlacht gegen alles, was links steht, stürzen können, so soll uns das nicht hindern, gelegentlich mit Stolz auf jene Zeit zurückzublicken, da die Zünfte Träger der Staatspolitik waren.» So wird es wohl dabei bleiben, dass man auch in der Zunft – wie an vielen andern Orten – politische Meinungen diskutiert. Als Hauptanliegen des heutigen Zunftlebens haben sich aber immer deutlicher die Pflege der Geselligkeit und der Tradition herauskristallisiert. Traditionsspflege in einer Zeit raschen Wandels ist gegenläufig, aber auch notwendig. Wie das Sechseläuten jedes Jahr beweist, wird dies von breiten Schichten der Zürcher Bevölkerung verstanden und gewünscht.
Literatur:
Zimmerleuten – Eine kleine Zunftgeschichte von Helmut Meyer, 2. Auflage 2011